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Die Welt sieht schwarz

Die Welt sieht schwarz

             von Susanne Niemeyer

„Wir müssen Weihnachten reformieren.“

 Der Engel schreckt aus seinem Schlaf. „Was? Wieso? Das ist doch gerade erst zweitausend Jahre alt.“ Aus seiner Perspektive ist das ein Klacks. Er wüsste einiges, was man reformieren könnte. Seine Dienstkleidung zum Beispiel. Diese ewigen Flügel! Wenn es nach ihm ginge, könnte man gut darauf verzichten. Sie jucken und stauben und andauernd fliegen irgendwo Federn herum. Aber Weihnachten? Das mag doch jeder. Kerzen, Kekse und Geschenke. Selbst die hartgesottensten Skeptiker werden mild. Was so gut läuft, sollte man nicht ändern, findet der Engel. Aber Gott der Herr schaut mürrisch drein. Ein solcher Blick verheißt nichts Gutes, das weiß der Engel aus Erfahrung. Genauso hatte er geguckt, bevor er den riesigen Turm umstieß oder die Ägypter im Meer versenkte. Der Engel beschließt, auf der Hut zu sein, und setzt ein besonders interessiertes Gesicht auf.

„Die Menschen glauben nicht mehr daran“, fährt Gott der Herr fort. „Sie verstehen nicht, was diese ganze Geschichte mit dem Stall und der Heiligen Nacht soll. Wie auch? Dazu müsste mal Stille sein. Und Zeit. Und Dunkelheit. Aber wer hat das schon? Stattdessen setzen die Kleinen auf einen albernen Kerl im roten Mantel und die Großen auf Amazon.“

Wieder mal ist der Engel überrascht, wie gut der Allmächtige informiert ist. Man kann einiges an ihm kritisieren, seine unberechenbaren Wutanfälle zum Beispiel oder seine allzu hohen Ideale, aber er geht mit der Zeit. Das muss man ihm lassen. „Wir könnten eine Sintflut schicken, nur eine kleine, die beseitigt diesen Kram“, schlägt der Engel vor, denn er hat grundsätzlich eine Vorliebe für den kurzen Prozess. Der macht am wenigsten Arbeit und ist effektiv.

„Doch nicht an Weihnachten“, schnaubt Gott und schaut den Engel an, als sei er ein lausiger Anfänger. „Hast du denn gar nichts verstanden? Da wollen die Leute Liebe und Frieden und keine Katastrophen!“ Der Engel hat in der Tat nur halbherzig mitgedacht. Er beeilt sich um einen weitern Vorschlag zu unterbreiten: „Wie wäre es mit einem neuen Kind? Kinder gehen immer.“ Dagegen lässt sich nun wirklich nichts sagen. Die Leute sind ganz verrückt nach glänzenden Äuglein und putzigen Kleidchen. Besonders an Weihnachten. Aber Gott schein auch davon nicht überzeugt: „Und was mache ich nächstes Jahr? Ich kann mich doch nicht unendlich vervielfältigen. Da blickt ja kein Mensch mehr durch. Das mit dem Heiligen Geist kriegen sie schon nicht in ihre Köpfe. Übrigens: Wo steckt er schon wieder? Er soll mich inspirieren.“ Der Engel zuckt mit den Schultern: „Du weißt doch, er weht, wo er will.“ Gott der Herr nickt ergeben. Manchmal fragt er sich, ob hier eigentlich jeder macht, was er will. Er beschließt, sich später damit zu befassen. „Also weiter. Was fällt dir noch ein?“ „Ein Wunder! Wie wäre es mit einem Wunder? Wunder mögen alle.“ Aber Gott winkt müde ab. „Das haut auch keinen mehr vom Hocker. Seit es YouTube gibt, gelangen die tollsten Dinge in die Welt. Nichts, was es nicht schon gibt. Da kommen wir nicht gegen an.“

Der Engel reibt sich das Kinn und plustert seine Federn. Das tut er immer, wenn er nicht weiter weiß. Stille. Dunkelheit. Zeit. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Plötzlich springt er auf. „Aber natürlich. Stehlen. Wir stehlen ihnen den Strom!“

Gott der Herr sieht in verständnislos an. Der Strom, findet er, fällt nicht in sein Ressort. Keine schlechte Sache, aber er hat ihn nicht erfunden. Darum hat er sich bisher auch nicht um ihn gekümmert. Der Engel dagegen kann sich vor Begeisterung kaum halten: „Wir drehen ihnen den Strom ab. Naja zumindest den Alltagsstrom, den, den keiner wirklich braucht. Die Krankenhäuser und die Fischfabriken, die lassen wir außen vor. Aber sonst? Die Fernseher haben Sendepause. Ihre Handys werden aufhören zu empfangen. Kein Onlinekalender lässt sich mehr abrufen und keine Ladenkasse scannt mehr überteuerte Sachen, die niemand braucht. Kein Weihnachtsmarkt plärrt >Last Christmas<, keine Glühweinwärmer, keine Lichterketten. Wenn alles dunkel ist, haben wir wieder leichtes Spiel. Sie werden sich ein bisschen aufregen, aber dann werden sie nach den echten Kerzen suchen, sich in warme Decken wickeln, das Klavier aufklappen und sich an die alten Lieder erinnern. Du könntest die Sterne funkeln lassen und ein paar Käuzchen losschicken. Im Dunkel der Straßen werden sie sich an den Händen fassen, sie hätten Augen füreinander und keine Schaufensterauslage lenkt sie ab. Hauch ein paar Eisblumen an die Scheiben, wirf ihnen Haselnüsse vor die Füße. Sie werden sich an ihr Wünsche erinnern, die echten, die sie nicht bestellen können und die ihre Herzen warm machen, ganz ohne Heizstrahler. Hellhörig werden sie, wenn wir ihnen ins Ohr flüstern, dass wir da sind, Der Himmel auf der Erde, in dieser Nacht.“

Der Engel strahlt. Gott auch. Er findet, das ist eine hervorragende Idee. Sie könnte direkt von ihm sein. Und so kommt es, dass Gott der Herr, Lichtbringer von Anbeginn an, die Lampen löscht. Er unterbricht den ewig fließenden Strom der Nachrichten und Bilder, sodass die Welt schwarz sieht. Stille senkt sich über die Dächer, die Dunkelheit ist vollkommen. Und in dieser Dunkelheit findet sich Platz für einen neuen Anfang.

 

 

 

 

 

In diesem Sinne wünsche ich Dir und Deinen Lieben besinnliche,
friedvolle und liebevolle Weihnachten!
 

Und ebenso ein erfolgreiches, erfülltes und freudvolles neues Jahr!

 

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